1.1.1. Vom Pauper zum Proletarier

Das Phänomen der Armut hatte in der damaligen Gesellschaftsordnung einen festen Platz. Die Armen wurden von der Kirche mit dem Nötigsten ausgestattet und erfüllten gegenüber den bessergestellten Bürgern eine Funktion, indem sie diesen ihre gehobene Stellung bestätigten und Bedürfnisse sozialer Hochgeltung befriedigten. Der Arme war in diesem Sinne »nützlich«, hatte einen festen Platz in der Standeshierarchie, und „zu seiner Beseitigung bestand kein Anlaß, solange seine Unterordnung freiwillig und selbstverständlich erfolgte. Lediglich auf Beibehaltung der Distanz legte die Ständegesellschaft Wert.“[76]

„Aber nicht die Notlage dieses ländlichen Proletariats, obwohl ohne Zweifel die ärmste und bedrohteste Schicht, auch nicht die elende Lage der Heimarbeiter, der Handweber oder anderen verfallenen Handwerks zog das Interesse der Beobachter auf sich. Not und Elend durch Krieg, Seuchen und Mißernten hatte es immer gegeben; auch eine »soziale Frage«, eine aus der wirtschaftlichen Lage einer ganzen Bevölkerungsschicht sich ergebende wirtschaftliche Not war nicht neu, nur war sie nicht oder wenigstens nicht weithin sichtbar geworden[77]. Solche Nöte gehörten in das gesellschaftliche Bild, man war sie gewohnt. Bis zu diesen Gruppen war eben die Gesellschaftstheorie der [S. 53] Aufklärung noch nicht vorgedrungen, man rechnete sie den »gottgewollten Abhängigkeiten« zu. Nicht diese Schichten mit ihren altbekannten Nöten lenkten das Interesse der Sozialreformer auf sich, sondern das gesellschaftlich neue Element des »Proletair«. Die neue Arbeitsform, das in Entfaltung begriffene Fabrikwesen und der von ihr geprägte Mensch wurden als die neue, gesellschaftsbestimmende Kraft empfunden, sie werden die neue, nur in Umrissen geahnte Welt-und Gesellschaftsordnung heraufführen.“[78]

Was sich als »Pauper« oder »Pöbel« mit angestammten Platz in den Städten und noch größerem Ausmaß auf dem Lande befand, zog sich nun in den Städten zusammen „und wucherte dort über das Maß dessen hinaus, was die gebundene Gesellschaft für möglich und zuträglich gehalten hatte. Das meinte HEGEL, wenn er vom »Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise« sprach, die zum Verlust des Ehr- und Rechtsbewußtseins führe und es unmöglich mache, »durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen«.“[79]

Hatte es in Deutschland bis dahin noch keinen entfesselten Pöbelstand gegeben, so fürchtete die bürgerliche Gesellschaft nun um ihre Existenz. „Das Glück der bürgerlichen Gesellschaft hängt vom Dasein vieler tüchtiger, gesunder, kräftiger, intellektueller, sittlich gebildeter Menschen ab. Dies Glück ist im Widerspruch mit dem Dasein eines zahlreichen notleidenden Pöbels. Die Gesetzgebung muß also nicht unbedingte Volksvermehrung als Grundsatz aufstellen (...).“[80] Diskutiert wurden Ehe-und Fortpflanzungsverbote für jene, die eine Familie nicht zu ernähren vermochten[81]. Man sah die untersten Stände »übervölkert«, obwohl es ein Problem der »Überbevölkerung« im räumlichen Sinne nicht gab[82], sondern die ökonomischen Gegebenheiten lediglich nicht jedem die Produktion oder den Erwerb von Nahrungsmitteln ermöglichten[83]. Für die neuartige Erscheinung des entfesselten Pöbels, [S. 54] der damit aufhörte, Pöbelstand zu sein, bürgerte sich der Begriff des »Proletaire« ein. Zusammengezogen in den Städten und dort in den Fabriken, entwickelte das neu entstandene Proletariat ein gemeinsames Bewußtsein seiner Lage und trat damit auch erstmals als eine geeinte Klasse in Erscheinung, während der Pauper der Vorzeit kaum Anlaß hatte, sein Schicksal als Ausdruck eines gesellschaftlichen Klassen-Verhältnisses zu begreifen.

Bereits bei ADAM SMITH traf den Arbeiter das Merkmal der Besitzlosigkeit[84], und spätestens seit LORENZ VON STEIN ist er als Klasse mit eigenständigem Begriff auch in Deutschland verstanden worden. Indessen „muß der Auffassung widersprochen werden, daß das Proletariat ein Erzeugnis des 19. Jahrhunderts sei. Dabei rechnen wir zum Proletariat diejenigen Personen, die infolge ihrer gesellschaftlichen Lage nicht zur Bildung von Vermögen oder höherem Arbeitseinkommen gelangen können und zur Fristung des Daseins auf Arbeitslohn angewiesen sind.“[85] „So schrieb CARL BERTRAM STÜVE im Jahre 1832 von den zwei Klassen: »Eine, welche jederzeit von ihrem Eigentume und dessen Früchten lebt, die andere, welche durch Anwendung ihrer Kräfte jene erstere bewegen muß, ihr so viel vom Eigentume der Dinge zu überlassen, als der Unterhalt erfordert«[86]. STÜVE, der noch nicht die industrielle Gesellschaft, sondern den Spätfeudalismus im Auge hatte, da es ihm um das Ziel der Bauernbefreiung in sozialpolitischer Absicht ging, sah gleichwohl die soziale Krise seiner Zeit höher treiben; denn die Ansprüche der sich vermehrenden und notleidenden »handarbeitenden Klasse« wüchsen ständig, [S. 55] während die Mittel zur Befriedigung dieser Ansprüche bei dem starren Festhalten der »genießenden Klasse« sich vermindern. So sei nicht nur die Not, sondern auch das Bewußtsein dieser Not im Wachsen. Diese Auffassung STÜVEs ist für unseren Zusammenhang deswegen so bemerkenswert, weil hier noch vom Verhältnis der Grundherren zum Landvolk der bäuerlichen und unterbäuerlichen Schicht ausgegangen wird. Es handelt sich also noch um den Kampf gegen die ständische Agrargesellschaft, die unter den Bedingungen der Zeit Klassencharakter anzunehmen im Begriff war.“[87]

Welches Bild das so sich in den Industriezentren zusammenziehende Proletariat bot, läßt sich in Deutschland gut anhand der Verhältnisse von Wuppertal beschreiben. Das Wuppertaler Museum für Frühindustrialisierung dokumentiert für 1861 folgende Zusammensetzung der Bevölkerung: 78,5 % Proletarier, 11,1 % Proletaroide, 4,3 % Handwerker, 2,5 % Angestellte, 1,4 % Kapitalisten[88]. Ein Vergleich mit den oben (? 49) angeführten Statistiken des Königreichs Preußen zeigt deutlich, daß Wuppertal damit weit von dem Durchschnitt damaliger Verhältnisse abweicht. Verwaltungsstädte wie Münster oder Berlin, Handelsmetropolen wie Hamburg, Kirchenstädte wie Trier oder Köln, Universitätsstädte wie Heidelberg, Bonn und Tübingen dürften eine völlig andere Sozialstruktur aufgewiesen haben, die natürlich auch Armut kannte, aber noch kein industrielles Proletariat diesen Ausmaßes.

„Im heutigen Stadtgebiet Wuppertals lebten um 1850 ca. 110.000 Menschen, ebensoviel wie in München oder Breslau. Von allen deutschen Städten zählten nur Berlin und Hamburg damals mehr Einwohner.“[89] Wuppertal beherbergte neben dem Geburtshaus FRIEDRICH ENGELS und der Fabrik seines Vaters in Barmen das überhaupt erste industrielle Zentrum des Rheinlandes. An dem traditionsreichen Standort des Garnbleichergewerbes kauften sich die Bleicher und Garnhändler des Wuppertals im Jahre 1527 das Privileg (Monopol) der Garnnahrung, welches besagte, daß niemand im Bergischen Land für gewerbliche Zwecke Garn bleichen durfte, außer in Elberfeld und Barmen. Durch dieses Privileg geschützt, „entwickelte sich das Wuppertaler Bleichergewerbe und mit ihm der Garnhandel in den folgenden 280 Jahren zur höchsten Blüte. Es kam in dem Tal der Wupper zur Kapitalanhäufung, die die Grundlage für die früh einsetzende Industrialisierung im Tal der Wupper bildete.“[90] Aus der Farbstoffherstellung des Herrn BAYER ging die gleichnamige chemische Industrie hervor, so daß die Stadt den Titel »deutsches Manchester« bis gegen 1900 durchaus verdient und erst danach in ihrer industriegeschichtlichen Bedeutung hinter die benachbarten Kohle-und Stahlstandorte zurücktrat.

Weitere Berichte aus Wuppertal veranschaulichen, wie sich die Verhältnisse in dieser Stadt zuspitzten und alles überboten, was man an »natürlicher« Armut aufgrund von Unglück oder Mißgeschick in der Vergangenheit gewohnt war. Daß hier [S. 56] die Kräfte einer neuen Zeit am Werke waren, die sich epidemisch ausbreiten würden, läßt sich als Sorge von Wuppertal aus betrachtet nachvollziehen. Daß dieser Realitätsausschnitt den subjektiven Standpunkt eines FRIEDRICH ENGELS prägte, sei nochmals betont.

a) Wohnverhältnisse

„Der 1. Mai war traditionsgemäß der Tag, an dem die Miete für das folgende Jahr gezahlt werden mußte. Wer nicht zahlen konnte, mußte die Wohnung verlassen. So wurde dieser Tag zu dem des allgemeinen Wohnungswechsels. In einem Bericht über den 1. Mai 1846 heißt es: »Wer die Armut Elberfelds in ihrer ganzen Ausdehnung kennen lernen will, gehe an diesem Tag in die vom Proletariate vorzugsweise bewohnten Straßen, besonders in die s. g. Gathe, welche fast nur von Arbeitern bewohnt ist. Diese Straße, von einem stinkenden Bache durchflossen, über den einige hölzerne Brücken führen, besteht aus einer Reihe von Häusern, die eher Baracken zu nennen sind, so schief, alt und hinfällig sind sie fast alle -Unreinlichkeit und Pfützen vor und hinter den Häusern und dazwischen tummelt sich eben so schmutzig und zerlumpt die junge Generation, die von der Wiege her schon zu Leiden und Entbehrungen bestimmt ist, froh und harmlos. Die Jugend weiß es noch nicht, was Elend ist. Und in solchen Hütten, in solchem Schmutze können Menschen wohnen! Ja, wer selbst noch nie die Höhlen der Armut betreten hat, kann heute Entdeckungen machen, vor denen der unbefangene, harmlose Sinn sich entsetzt ... Heute steigt das Proletariat aus seinen dumpfen Höhlen, die modernen Sklaven der Industrie, ein Geschlecht, arm und verwahrloset, arm an Gelde aber reich an Kindern, dessen unabänderliches Schicksal es zu sein scheint, zu arbeiten, zu leiden und zu sterben.« (...) 1861 berichtete der Inspektor der Missionsgesellschaft Dr. FABRI: »In dem Anbau eines elenden, übervölkerten Hauses, der von außen einem schlechten Schweine-oder Ziegenstalle gleicht, fand ich vor kurzem in einem Raume, der 12' (3,75 m) lang, 7' (2,20 m) breit und 6' (1,90 m) hoch ist, 10 Personen verschiedenen Alters und Geschlechtes zusammenwohnen, in einem Bett, d. h. einer Bettstelle mit Lumpen und auf dem ungedielten bloßen Boden liegend. In einem Raume, einem eigentlichen Taubenschlage unter den Dachziegeln, der 6' (1,90 m) lang, 7' (2,20 m) breit und 5' (1,60 m) hoch ist, 4 Personen. In einem Keller, 10' (3,15 m) lang, 8' (2,50 m) breit, 6' (1,90 m) hoch, 6 Personen. Und diese äußersten Fälle lassen sich bei genauerer Untersuchung leider in allen Arbeiterquartieren in nicht geringer Zahl nachweisen.«“[91]

b) Kindersterblichkeit

„Bangladesch, auf dem indischen Subkontinent gelegen, gilt als das gegenwärtig ärmste Land der Welt. Dort kommen auf 1000 Lebendgeburten 142 Todesfälle von Säuglingen unter einem Jahr. (...) Die Rückständigkeit eines Entwicklungslandes wie Bangladesch erscheint aber in einem ganz anderen Licht, wenn man die dortigen Zustände mit denen vergleicht, die während der ersten Phase der Industrialisierung in Deutschland vor 150 Jahren herrschten. In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts kamen in Elberfeld auf 1000 Lebendgeburten 152 Sterbefälle von Kindern unter einem Jahr. Die Säuglingssterblichkeit war damals in Wuppertal höher als in den ärmsten Ländern der Dritten Welt heute. (...) Nach der Hungerkatastrophe von 1816/17 kam es 1818 zu einer Scharlach-und Masernepidemie. (...) Auf 1000 Lebendgeburten kamen [S. 57] in jenem Jahr 641 Sterbefälle von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren. (...) Eine noch höhere Sterberate war im Jahr 1830 zu verzeichnen. Jenes Jahr war durch eine Wirtschaftskrise mit hoher Arbeitslosigkeit und Teuerungswelle, bedingt durch eine Mißernte bei Getreide und Kartoffeln, gekennzeichnet. Eine gleichzeitig auftretende Masern-und Rötelepidemie forderte Hunderte von Toten. Als weiteren Grund für das Massensterben führte BRÜNING den strengen Winter zu Anfang des Jahres an, der die Lage so verschärfte, »daß unverhältnismäßig viele aus der armen Volksklasse, die sich nicht genug vor dem Einflusse der Kälte verwahren konnten, gestorben sind.« Die Sterberate bei Kindern und Jugendlichen lag in jenem Jahr bei 688 pro 1000 Geburten. Ein dritter und letzter Höhepunkt der Sterblichkeit (...) fällt in die Jahre 1846/47. Wieder waren Wirtschaftskrise, Massenelend und extrem hohe Nahrungsmittelpreise die Gründe für eine Hungersnot. Da das Wuppertal aber von schweren Epidemien verschont blieb, stieg diesmal die Sterberate nicht so erschreckend hoch an. 1846 entfielen auf 1000 Geburten 414 und im folgenden Jahr 426 Todesfälle von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren. Seit 1830 grassierte in Mitteleuropa die Cholera. Seltsamerweise blieb das Wuppertal von dieser Pest des 19. Jahrhunderts weitgehend verschont. Wie groß das Unglück in jenen Hungerjahren gewesen wäre, wenn hier gleichzeitig die Cholera ausgebrochen wäre, läßt sich nicht vorstellen.“[92]

c) Moral und Sitte

„Lagen die Spinnmühlen und Fabriken wie z. B. an den Wassergefällen der Wupper bei Lennep oft stundenweit von menschlichen Wohnorten entfernt, -wer wollte dann bei Schnee und Kälte, Regen und Wind nach Hause? Es scharrten sich die Arbeiter die Flocken und Abfälle zusammen in die Ecken; dort hatten sie es wärmer und weicher als auf dem harten Lager daheim, die Lichter wurden ausgelöscht und in den stauberfüllten, verpesteten Sälen begann nicht der Friede des Schlummers, nein die entsetzlichsten Orgien, von deren wilder Lust die Kinder die Zuschauer abgaben. (...) Am Tage wurde der Grund zu den nächtlichen Ausschweifungen gelegt. In den Anfängen des Fabriksystems und zum Theil noch heute arbeitet Alles unterschiedslos durch einander: Kinder, halbwüchsige Burschen und Mädchen, Männer und Frauen, in den überhitzten Räumen nur mit einem Hemde oder Rock bekleidet. Jede Scham mußte schwinden, der Ton wurde der Tracht entsprechend ein grenzenlos roher, und im Zwielicht bei aufgeregter Nerventhätigkeit und in der Nacht, wo Rücken an Rücken oder Seite an Seite gearbeitet wurde, gingen rohe Worte zu noch roheren Thaten über. Einzelne Fabrikanten hielten sich hübsche Arbeiterinnen in der Fabrik und traten an viele Andere mit ihren Verführungen heran; manche Werkmeister benutzten ihre Herrschaft, um den Mädchen alle Zugeständnisse zu entreißen. Ja nicht einmal mit Erwachsenen begnügten sich die Schlimmsten. In einer großen Spinnerei Barmens hatten 13 Mädchen von 10 -14 Jahren der Bestialität eines Aufsehers gewaltsam unterliegen müssen und ihre Familien mit einer schrecklichen Krankheit angesteckt.“[93]

[S. 58] d) Kinderarbeit

Den Protokollen des 5. Rheinischen Provinziallantages vom 6.7.1837 zur Beratung eines Kinderschutzgesetzes entnehmen wir:

„Der Herr Abgeordnete SCHUCHARD (Barmen) bemerkte: daß gewissenhafte Kreisphysiker[94] versicherten, wenn die Kinder auch nur um 10 Stunden in die Höhlen des Jammers eingesperrt würden und stets sich auf den Beinen befinden, um zu arbeiten, so erhielten besonders die Mädchen Geschwülste und Auswüchse, die Beine schwänden und die Kinder welkten elendiglich dahin. Er müsse indessen das Zeugnis ablegen, daß die Spinnerei von Oberempt in Barmen insoweit eine Musteranstalt genannt werden könne, indem derselbe um 11 Uhr morgens seine Maschinen still stehen lasse, um seinen 200 Spinnkindern eine bis 1 und 1/4 Stunde Unterricht erteilen und sie dann eine Stunde freie Luft genießen lassen (...) Der Herr Abgeordnete fuhr darauf fort, von allen Seiten erhoben sich Stimmen um das Interesse der Fabrikherren zu verteidigen unter dem subtilen Vorwande, die Industrie seie bedroht; selten aber erhebt sich eine Stimme für den Arbeiter, um ihr Los zu verbessern. (...) Der Herr Abgeordnete VOM BAUR (Ronsdorf) sagte: »Meine Herren! Ich bemerke leider, daß der uns gegenwärtig beschäftigende Gegenstand von einem unrichtigen Standpunkt aus beleuchtet wird. Die von Ihnen scharf beurteilten Fabrikanlagen, welche Kinder beschäftigten, rufen den von Ihnen mit so viel Härte geschilderten Jammer nicht hervor, sondern mildern den bereits vorhandenen. Eine Überbevölkerung, die der Ackerstand nicht mehr zu beschäftigen weiß, strömt den Anstalten zu, wo Arbeit, wo Brot zu erwerben ist. Entstehen können diese nur da, wo Kräfte sind, die keine nützliche Anwendung finden. Könnten Sie diesen Händen etwas Lohnenderes bieten, so wäre der Grund des Übels behoben (...).«“ Die daraufhin zur Abstimmung gebrachte Frage lautete: „»Soll die Beschränkung der Arbeitsstunden auf 10 als Maximum befürwortet werden?« Der Herr Abgeordnete BOELLING (Gladbach) wiederholte nochmals seine Versicherung, die Arbeitsstunden könnten nicht vermindert werden, worauf der Herr SCHUCHARD (Barmen) sagte: »Könnten Sie, hochverehrte Herren, doch einmal die Jammerszene mit ansehen, wenn die armen, zarten Kinder morgens früh um 5 Uhr in kaltem oder nassem Wetter weinend und widerstrebend von der Mutter in ein solches Gefängnis geschleppt werden, auch Ihnen würde es das Herz zerreißen.« Es haben 60 Stimmen die vorstehende Frage bejahend und 9 verneinend beantwortet.“[95]

Die Berichte anklagenden Inhaltes ließen sich endlos fortsetzen, wobei man der Vollständigkeit halber hinzufügen muß, daß in jener Zeit nicht nur Elendsquartiere und Hungergestalten das Stadtbild prägten, sondern parallel dazu auch ganze Wohnviertel mit prächtigen Villen und berühmt gewordenen Persönlichkeiten. Das zutiefst religiöse Leben in der Stadt und die gewährte Armenfürsorge lassen zudem vermuten, daß die bessergestellten Wuppertaler durchaus Anteil nahmen an dem Schicksal der Ärmsten und sich über Abhilfe berieten. Von daher war ihre Haltung sicher keine distanziert-zynische, sondern eine teilnehmend-betroffene, die neben dem Standpunkt des verwirklichten Eigeninteresses als Maxime durchaus humanistisch geprägt war. [S. 59]

1820 geboren, hat sich ENGELS 1841/42 während seines einjährigen Militärdienstes in Berlin für die Philosophie HEGELs und FEUERBACHs begeistert. Am 20. November 1842 ging er für zwei Jahre in den väterlichen Betrieb nach Manchester. „Leider war er nicht mehr unbefangen genug, als er nach England kam. Unter dem Einfluß von HEGEL, FEUERBACH und MOSES HEß hatten bei ihm bereits Überzeugungen feste Wurzeln geschlagen, für die er im englischen Leben vor allem nur Bestätigungen zu suchen geneigt war. Ohnehin voreilig in seinen Schlüssen, ließ er sich verleiten, die besonderen Verhältnisse des Notjahres 1842 in Manchester zu verallgemeinern. Etwa um den 20. November 1842 hatte er englischen Boden betreten und schon am 30. November sandte er eine Korrespondenz aus London an die Rheinische Zeitung in Köln: England stehe am Vorabend der sozialen Revolution. Die Stellung der englischen Industrie sei unmöglich geworden, die Lage der Staatsfinanzen und der Volksernährung erfordere den Freihandel. Dieser aber bedeute den Untergang der Industrie, von der die Hälfte des englischen Volkes leben müsse.“[96]

1844 trafen sich ENGELS und MARX in Paris und stellten die völlige Übereinstimmung ihrer Standpunkte fest. 1845 erschien die von ENGELS verfaßte Schrift »Zur Lage der arbeitenden Klasse in England«, die diesen über Nacht berühmt machte. „Von BRUNO HILDEBRAND[97] wurde er bereits 1848 als der »ohne Zweifel begabteste und kenntnisreichste unter allen deutschen Sozialschriftstellern« bezeichnet, während MARX noch ganz unbekannt war. HILDEBRAND übte eine scharfe Kritik an ENGELS Leistungen, wies zahlreiche Übertreibungen, Einseitigkeiten und Irrtümer nach. Die durch die Industrie gehobenen Teile der Arbeiterklasse würden übersehen, die Ausnahmeerscheinungen aus den Zeiten einer schweren Handelskrise als normale Verhältnisse hingestellt. Aber die ganze Kritik ist erfüllt von tiefem Respekt für den Verfasser und dessen warmes Mitgefühl für die Leiden des Proletariats[98]. (...) ENGELS wurde nach einem glücklichen Ausdrucke von WILBRANDT MARXens »Auge für die Wirklichkeit«. Leider aber hatte das ENGELSsche Auge die Wirklichkeit in England keineswegs so zutreffend aufgenommen, als MARX, in nationalökonomischen Dingen damals noch hinter ENGELS zurückstehend, annehmen zu dürfen glaubte.“[99]

Mit dem Entwurf des Manifestes der Kommunistischen Partei (1848) lag der politische Ausgangspunkt MARX-ENGELSscher Theorie dann schon weitgehend fest. In den Vordergrund der Wahrnehmung tritt die Bourgeoisie als eine Technik entwickelnde und Kapital akkumulierende Klasse, deren unstillbarer Hunger nach Profiten einerseits alle beengenden Traditionen niederreißt, andererseits aber in dem von ihr in den Fabriken zusammengetriebenen Proletariat ihren eigenen [S. 60] revolutionären Widersacher und Totengräber schafft, der der Bourgeoisie den Rang ablaufen wird, sobald die gemeinsame Klassenlage in ein geeintes Bewußtsein umschlägt und sich das Proletariat zum Kampfe vereint und erhebt[100].

1.1.2. Vom Meister zum Proletarier

Eine »andere« soziale Frage, die vor allem den bedrängten selbständigen Handwerkermeister betraf, läßt sich gut anhand der Lage in Berlin beschreiben. BERNSTEIN[101] führt für Berlin im Jahre 1846 folgende Statistik an:

Gewerbeart Meister Gesellen Lehrlinge
Garnweber 2325 885 300
Posamentiere 186 130 60
Raschmacher 427 300 70
Strumpfwirker 110 150 15
Seidenwirker 1030 1200 460
Tuchmacher 114 306 9
Tapezierer 300 250 ?
Abb. 5: Anteile Meister, Gesellen und Lehrlinge in den Gewerben, Berlin 1846

 

„Diese Gewerbe weisen zusammen fast anderthalbmal soviel Meister als Gesellen auf. Diese »Meister« müssen also in Verhältnissen gelebt haben, die wir heute als »proletarisch« bezeichnen. Aber sie waren doch Meister und fühlten sich als solche! In der Tischlerei gab es rund 2000 Meister und 2200 Gesellen, in der Schneiderei 4000 Meister und 2600 Gesellen. In der Schuhmacherei muss es wie bei den Schneidern gestanden haben. Ebenso in Bäckerei, Fleischerei u. ähnl. Die grosse Industrie war in ihren Anfängen. Und noch beherrschte das platte Land vollständig die wenig zahlreichen Städte. 1848 ist das Verhältnis von drei gegen eins gewesen, noch 1861 rund 13 Millionen ländliche gegen etwas über 5 ½ Millionen städtische Einwohner. Von den Fabriken vor dem Oranienburger Tor und dem noch sehr unbedeutenden Geheimratsviertel vor dem Potsdamer Tor abgesehen, fing ausserhalb der damaligen Stadtmauer Berlins sofort das Dorf an. Und auch innerhalb der Stadtmauer wohnte noch eine stattliche Anzahl von Ackerbürgern, die ihre vor den Toren liegenden Felder bewirtschafteten. Dort gab es, wie BERNSTEIN dieses selber als Knabe kennenzulernen Gelegenheit hatte, noch gar manches fast völlig bäuerliches Gehöft. Wie das hauptstädtische Leben überhaupt noch wenig entwickelt war, vielmehr ganze Stadtviertel einen ausserordentlich tristen Eindruck machten, so gab es auch in Berlin sehr viele Leute, die noch nicht einmal die innerliche Trennung vom Dorf vollzogen hatten, aus dem sie eingewandert waren, sondern in ihren sozialen Anschauungen und politischen Urteilen fast völlig dem Landvolk entsprachen.“[102]

[S. 61] Berlin war im Jahre 1847 trotz seiner 390.000 Einwohner noch eine Handwerkerstadt.

„Wohl 200.000 Personen hingen mit ihrer Existenz direkt vom Ergehen des Handwerks ab. Man zählte, abgesehen von den Webern, im Jahre 1846 27.125 selbständige Meister und 50.933 Gehilfen und Lehrlinge. (...) Viele Berufe waren überfüllt. Handwerker, die in der Provinz kein Glück hatten, drängten nach Berlin, und die Gewerbegesetzgebung, die, wie wir sahen, der Gewerbefreiheit zuneigte, begünstigte diesen eigentümlichen Aufschwung der Stadt. Sie zählte 1810 erst 162.000, 1840 aber 322.260 Einwohner und 1847 gegen 390.000. Die Masse der Meister wuchs in einzelnen Berufen so stark an, daß ein damaliger Kenner der Verhältnisse sagen konnte, die Arbeit sei bei der wachsenden Masse der Bevölkerung zum Hazardspiel geworden. Nur der glücklichste und begünstigste Teil hatten einen guten Verdienst. Alle anderen lebten in der permanenten Unsicherheit, ob sie auch Arbeit erhalten würden. Eine grosse Zahl der kleinen Meister arbeitete die Woche hindurch ohne jede Sicherheit, bloss auf die Möglichkeit hin, ihre Arbeit am Ende der Woche zu verkaufen. Die Bedauernswerten fielen den damals aufkommenden Zwischenhändlern in die Hände, die dem Handwerker die Kunden abnahmen und seine Arbeit zu Spottpreisen verkauften. Berlin zählte damals an 4000 selbständige Schneider, von denen zwei Drittel keine hinreichenden Bestellungen hatten. Dagegen gab es schon 206 Kleiderhändler, die ihre Waren zu den denkbar niedrigsten Herstellungspreisen von den kleinen Meistern bezogen. Wollten die Meister nicht billig genug liefern, so wandte man sich an die Militärschneider, die damals den Zivilschneidern die schärfste Konkurrenz machen durften. Die sogenannten Arbeiterkompagnien nahmen von den Händlern Bestellungen entgegen und fertigten z.B. das Paar Hosen zu 4 -5 Silbergroschen an. Dabei konnten freilich die kleinen Meister nicht bestehen. Und es ist auch politisch klar, dass die Händler, die der liberalen Bourgeoisie angehörten, das entgegengesetzte Interesse an Lohnbewegungen der Meister und Gesellen haben mussten, als diese selbst. Damit war der Zwiespalt zwischen den beiden Teilen der Revolutionsbewegung, den Liberalen und den Proletariern, schon gegeben und diese der Reaktion gegenüber geschwächt.“[103]

Die sozial absteigenden Meister wurden demnach kaum von einer technisch-industriellen Revolution angegriffen. Vielmehr dominieren in den Darstellungen die Auflösung der alten Gesellschaftsordnung, Mobilität und wieder einmal das Auftreten von Händlern, die die selbständigen Produzenten gegeneinander ausspielen konnten und dadurch selber zu Profiten gelangten, die ihnen die Handwerker »steuern« mußten. Unbestritten sei ferner eine revolutionierte Arbeitsform, die darin bestand, daß etwa die an einer hohen Stückzahlproduktion orientierten Militärschneider in ihren Arbeitskompagnien den Rationalisierungseffekt der Arbeitsteilung/Spezialisierung nutzten. Und natürlich ist die Zerlegung der Arbeitsschritte in der Manufaktur eine Vorbedingung für den später Einzug haltenden Maschineneinsatz. Für uns interessant ist dagegen nicht, daß die Maschine irgendwann Bedeutung erlangt hat, sondern daß sie an der sozialen Frage des frühen 19. Jahrhunderts [S. 62] keinen bedeutenden Anteil hatte[104]. Nur so läßt sich die gesellschaftliche Strukturkrise angemessen hervorheben und ferner auch erklären, weswegen die einfache Assoziation den kleinen Meister wieder in eine konkurrenzfähige Position gegenüber den Manufakturbetrieben heben konnte. ALDENHOFF beschreibt die soziale Lage, wie sie sich z. B. SCHULZE-DELITZSCH darstellte, folgendermaßen:

„Die althergebrachte, ständische Gesellschaft war seit Mitte des 18. Jahrhunderts in Auflösung begriffen. Das sprunghafte Bevölkerungswachstum führte dazu, daß ständische Institutionen, wie die Handwerkerzünfte, dem Ansturm von Arbeitssuchenden nicht mehr standhalten konnten, lange bevor die preußischen Reformer -genannt sei in diesem Zusammenhang KARL AUGUST VON HARDENBERG -die Gewerbefreiheit einführten und die Zünfte abschafften (1810). Verstärkt wurde dieser Prozeß durch die gleichzeitige Vermehrung und Freisetzung der ländlichen Unterschicht durch die Agrarreform zu Beginn des 19. Jahrhunderts; da es noch keine Industrie gab, die die Arbeitssuchenden hätte aufnehmen können, drängten diese in die leicht erlernbaren Handwerksberufe wie Weber, Spinner, Schneider und Schuhmacher. Die Folge war, daß der einzelne Arbeitsplatz des Handwerkers abgewertet wurde; abgesehen von wenigen Sektoren gab es den gut angesehenen Handwerksmeister, der sein Auskommen hatte, nicht mehr. Der Handwerker in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war vielmehr notleidend und in einen harten Konkurrenzkampf verstrickt. Mehr als ein Drittel der Handwerksmeister in Preußen arbeitete ohne jeglichen Gesellen oder Lehrling. Dabei war die Lage in der Provinz Sachsen besonders schwierig; hier kam ein Gewerbetreibender auf nur 18 Einwohner (in der Provinz Pommern war das Verhältnis 1 zu 24). Besonders stark vertreten waren Schuhmacher und Schneider.“[105]

SCHULZE-DELITZSCH war in erster Linie Jurist und Sozialpolitiker. BOETTCHER und andere weisen darauf hin, daß SCHULZE-DELITZSCH, als er seine parlamentarische Arbeit aufnahm und mit der Lage des Handwerks konfrontiert wurde, „noch nicht genau zwischen »Handwerkern« und »Arbeitern« zu unterscheiden wußte, waren doch Fabrikarbeiter damals noch kaum anderes, nur unselbständig beschäftigte Handwerker“[106]. Er näherte sich also diesen Dingen von außen, und man wir kaum fehlgehen, wenn man das technisch-handwerkliche Geschick SCHULZE-DE-LITZSCHs gering einschätzt. Wesentlich ist vielmehr, daß er in seiner Eigenschaft als Jurist, Sozialpolitiker und Mensch mit praktisch-kaufmännischem Verständnis klar erkannte, daß der unorganisierte einzelne Handwerker auf seinem Absatz-und Beschaffungsmarkt zu wesentlich schlechteren Bedingungen Kontrakte eingehen mußte als die großen Fabrikunternehmen[107], daß die Arbeitsorganisation des vereinzelt [S. 63] arbeitenden Handwerkers uneffektiver ist als die einer assoziierten Kooperation, und daß vor allem die Unfähigkeit des Arbeiters, sich selber zu beschäftigen, ihn gänzlich abhängig machte von einer gesellschaftlichen Klasse, die ihn zu beschäftigen vermochte. SCHULZE-DELITZSCH sieht, daß die Leistung der Kapitalisten vor allem in der von ihnen bewältigten Organisation komplex-integrierter, arbeitsteilig organisierter Produktionsprozesse liegt. Weil diese Produktionsform bis dahin in freiwilliger Assoziation nicht versucht oder bewältigt wurde, die kapitalistische Privatunternehmung mit ihrem Ankauf von Material und Menschenkraft also als einzige diese Arbeitstechnik anwenden konnte, hatte sie quasi ein Monopol bei der Verwertung freier Arbeitskraft!

„Gerade in dieser Tendenz zum Großbetrieb, welche mit dem innersten Wesen der neueren Industrie verwachsen ist, liegt aber das für die Lage der Lohnarbeiter ebenso, wie für den Bestand des Kleingewerbes verhängnisvolle, ja bei dem gegenwärtigen Sachstande entschieden feindselige Element. Denn um ein Geschäft in diesem großartigen Maßstabe einzurichten und zu leiten, dazu gehören Voraussetzungen, welche bei jenen nicht zutreffen: einmal ein bedeutender Grad von Intelligenz, Unternehmungsgeist und Erfahrung, und sodann vor allen Dingen ein großes Kapital. Daß sich beides bei der großen Mehrzahl der Handwerker nicht vorfindet, wird nicht erst eines Erweises bedürfen. So geraten denn solche Unternehmungen ganz natürlich in die Hände der wenigen, welche Besitz und Tüchtigkeit dazu befähigen, und werden tatsächlich gewissermaßen das Monopol einer durch großes Vermögen und sorgsame Ausbildung bevorzugten, wenig zahlreichen Klasse, oft einzelner Familien, welche die Ausbeutung solcher industrieller Fundgruben, gleich einer Domäne, auf mehrere Generationen vererben. Welche Folgen dies auf die Stellung der Arbeiter äußern muß, ist leicht zu ermessen. Je weniger dieselben Aussicht haben, jemals selbständig zu werden, selbst ein eignes Geschäft begründen zu können, je weniger sie also ihren Arbeitgebern Konkurrenz machen können, desto mehr sind sie, ihres Brotes halber, von den Unternehmern jener großen Etablissements, die ihnen allein Beschäftigung geben können, abhängig; und je geringer die Zahl dieser Unternehmer ihnen gegenüber ist, je unverhältnismäßiger ihre eigene Zahl anwächst, desto mehr drückt dies die Löhne herunter. Bekanntlich unterliegt der Wert der Arbeit und demgemäß die Höhe der Arbeitslöhne auf dem Markte des Verkehrs demselben Gesetz, wie der Wert, beziehentlich der Preis jeder anderen Ware, dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Je zahlreicher die industriellen Etablissements sind, je mehr Arbeiter in ihnen gesucht werden, desto besser für die letzteren.“[108]

Von diesem Punkt seiner Erkenntnis ausgehend setzte er sich dafür ein, den Handwerkern die Bedingungen zu schaffen, die ihnen eine weitere Existenz in [S. 64] größtmöglicher Selbständigkeit sichern sollten. „Doch erinnern besonders die mittelalterlichen Zünfte an unsere heutigen Genossenschaften: so kauften die Zünfte oft gemeinsam die Rohstoffe ein und verkauften die fertigen Erzeugnisse in gleicher Weise.“[109] Die Idee der Assoziation zum Zwecke des An-und Verkaufes war somit keineswegs neu, sondern hatte im handwerklichen Gewerbe eine weit zurückreichende Tradition. Insofern mußte SCHULZE-DELITZSCH den Handwerkern, bezogen auf die Hilfsgenossenschaften, keine neuartigen Ideen nahebringen, sondern diese verbreiteten sich rasch aus sich heraus über das ganze Land, nachdem erst einmal erste Vereinigungen angeregt worden waren. Allein die Gründung der Assoziation verschaffte den Handwerkern bereits einen Preisnachlaß von 25 % bei ihren Vorprodukten. „Der Aufschwung des ganzen Schuhmachergewerks in Delitzsch, welches ich zuerst assoziierte, war sehr bald so bedeutend, daß die Schuhmacher aus den Nachbarstädten, welche mit den Delitzsch'schen die Märkte bezogen, zu mir kamen und sagten, wir können mit den Schuhmachern von Delitzsch nicht mehr konkurrieren, sie haben ihren Markt bis nach Magdeburg ausgedehnt, wir wünschen uns auch zu assoziieren. Bald kamen die Schuhmacher der umliegenden Städte in Bewegung und in mehreren wurden Assoziationen gegründet.“[110] Es bedurfte im Falle der Hilfsgenossenschaften keiner überragenden Erfindungsgabe oder umständlicher Experimente, sondern die Idee, gepaart mit einer beherzten Tat, genügte zur Initialisierung der mit Potential aufgeladenen Kettenreaktion.

Gänzlich anders stand es dagegen mit der von SCHULZE-DELITZSCH ebenfalls befürworteten Produktivassoziation. Bei ihr genügt es nicht, wenn ein Sozialpolitiker lediglich überzeugende Argumente dafür findet warum es sie geben sollte. Von keinem der lebenden Zeitgenossen SCHULZE-DELITZSCHs läßt sich sagen, daß eine Erfindung und praktisch-experimentelle Arbeit an der Unternehmungsform »Produktivassoziation« durch Intellektuelle stattgefunden hätte. Eine Reihe von Genossenschaften haben durch Versuch und Irrtum für sich tragfähige Regelungen entwickelt[111]; aber die Produktivassoziation ist bis heute kein kulturelles Allgemeingut[112]. Das heißt, es gibt sie, aber nicht in einer generationenübergreifenden Form kulturell verankerten gesellschaftlichen Wissens. Deswegen erscheinen mir jene auf SCHULZE-DELITZSCH verfaßten Lobeshymnen, die sein Eintreten für die [S. 65] Produktivassoziation mit einer Realisierung verwechseln, als (gewollt?) kurzsichtig und verfrüht angestimmt. Denn so verkehrt sich das Engagement SCHULZE-DE-LITZSCHs gegen seine eigene Idee, weil man nun behaupten kann, daß er oder die Produktivassoziation erfolglos gewesen sei. Nein, SCHULZE-DELITZSCH analysierte die Lage der Arbeiter und Handwerker zutreffend, leitete daraus eine marktkonforme Lösung ab, verfaßte Schriften darüber, initiierte die betriebswirtschaftlich anspruchslosen Hilfsgenossenschaften, nahm die Hürden bei den schon schwierigeren Vorschußvereinen und bereitete ein bis heute gültiges Genossenschaftsgesetz vor. Das ist der Ehre genug und muß nicht um die unzutreffende Behauptung ergänzt werden, daß er der Produktivassoziation einen Grundstein hätte legen können. Es täte seinem Ansehen keinen Abbruch, wenn man hinnehmen würde, daß das SCHULZE-DELITZSCHe Talent in dieser Frage weit hinter dem der Handwerker zurückstand, die zwar kaum öffentlich auftraten[113] und auch nicht in wissenschaftlichen Kategorien dachten, aber im Selbstexperiment immer wieder Lösungen entwickelten.

Die zweite Problemebene, die Strukturkrise, ist von anderem Format. SCHULZEDELITZSCH befaßt sich in seinen Schriften ähnlich wie LASSALLE[114] erst einmal damit, die Gesellschaft als „Kollektivwesen, dessen Dasein im stetigen Kommen und Schwinden der Individuen ununterbrochen fortdauert“[115], darzustellen und auf diese Sichtweise hin bildungspolitische Forderungen zu begründen. Ein »gesellschaftliches Leben« sah er aus seiner zeitnahen Perspektive vor den Kämpfen von 1848 noch gar nicht gegeben[116]. Die Stände der Vergangenheit hatten sich gegeneinander weitgehend ignoriert. Arbeiterinteressen standen gegen Meisterinteressen, Meisterinteressen gegen Händlerinteressen, Gewerbeproduktion gegen [S. 66] Agrarproduktion, Volkswirtschaft gegen Einzelwirtschaft etc. An den Interessenlagen hat sich bis heute nichts geändert, aber einer an Gesamtabstimmung orientierten Ordnung fällt die Aufgabe zu, ein funktionierendes gesellschaftliches Ganzes über die Interessen der Individuen zu stellen und somit die Reproduktion des »Kollektivwesens« von einem höheren Standpunkt aus zu organisieren. Mit welchem Recht und nach welcher Moral dabei wer in seiner Durchsetzungsmacht eingeschränkt wird, genießen darf oder abtreten muß, ist eine andere Frage. Gesellschaft zu konstituieren heißt, über diese Dinge überhaupt zu reden und gegebenenfalls zu streiten.

Einer in Strukturen verankerten Krise kann man willentlich nur mit strukturverändernden Maßnahmen begegnen, oder aber sie muß in ihrem »natürlichen Gang« hingenommen werden. WEINHOLD fand bereits 1828 eine treffende Formulierung, als er schrieb: „In der Natur herrscht die physische Kraft, in der Gesellschaft muss die Intelligenz herrschen. Sie bleibt das höchste Gut des Menschen, und wer ihre Einwirkungen unter die Kräfte der Natur stellen will, ist der Menschheit grösster Feind.“[117] Aber die Forderung nach einem Eingriff ist leichter formuliert als der Nachweis seiner Intelligenz: im Falle WEINHOLDs der Vorschlag eines Zeugungs-und Vermehrungsverbotes für die armen Klassen. Auf welche »klugen« Gedanken hätte ein preußischer Staatsdiener auch sonst kommen sollen, wenn er als Mitglied der oberen Gesellschaftsschicht seinem König einen Vorschlag zur Rettung des Staates unterbreitet? Er meinte: „Keine Ordnung der Gesellschaft aber wird jemals verhindern können, dass sich das Vermögen nicht endlich in den Händen Einzelner ansammle, selbst nicht das agrarische Gesetz. (...) Das Beneiden der Reichen muss man aufgeben, (...) Der Arme muss seine geistigen Kräfte, vorzüglich seine Vernunft ausbilden und sich überzeugen, dass es besser sey, er leide allein, als wenn er noch eine ganze Familie in den Abgrund ziehe.“[118]

Zwei Scheinerklärungen kennen wir bis hierhin: die übertriebene Fruchtbarkeit der Armen (Überbevölkerungstheorie) und den auf Technik und Stadtbevölkerung konzentrierten Ansatz.

Wendet man sich wie OPPENHEIMER[119] den Verhältnissen auf dem Land zu, und um 1800 lebten wohl noch 80 % der Bevölkerung von landwirtschaftlicher Produktion[120], dann fällt die Gesellschaft mit dem Zeitalter der »industriellen Revolution« [S. 67] nicht in eine Krise hinein, sondern beginnt sich eine vorhandene Spannung ganz im Sinne von SMITH durch rationale Einzelentscheidungen der Wirtschaftssubjekte aufzulösen. Die Märzrevolution von 1848 hätte in diesem Licht betrachtet nicht den Charakter einer »kleinbürgerlichen Bewegung«, wie MARX dies sah, sondern es wäre „die soziologische Ursache in dem Aufstieg des vierten Standes, in dem ungeordneten Einbruch des Proletariats in die halb feudale, halb bürgerliche Welt des METTERNICHschen Zeitalters zu suchen[121].“

„Wenn man im Zeitraum zwischen 1815 und 1848 nach anonymen Massen Ausschau hält, die das Geschehen unterirdisch bestimmt haben, so muß man sie weniger in gewerblichen Kreisen als vielmehr im Bauernstand suchen. Dort ist in der Tat ein sozialer Gärungsstoff angehäuft, der in spezifisch deutschen Verhältnissen seinen Ursprung hat und auf verjährte Mißstände zurückgeht, mit denen auch der aufgeklärte bürgerliche Obrigkeitsstaat josefinischen Gepräges nicht fertig geworden ist.“[122] Denn: „es gehört zu den Besonderheiten der neueren deutschen Geschichte, daß die »Großagrarier«, längst nachdem sie in die politische Defensive gedrängt waren und die wirtschaftliche Vormachtstellung der Schwerindustrie und dem Finanzkapital hatten überlassen müssen, dennoch auf autoritärer, wenn auch demokratisch verkleideter Basis im sozialen und politischen Leben der Nation eine ungewöhnlich einflußreiche Rolle bis zum Zusammenbruch der konservativen Monarchie haben spielen können. Denn auch im Zweiten Reich, nach der Eroberung Deutschlands durch Preußen, blieben die traditionellen Herrschergruppen des Hohenzollernstaates, die Großgrundbesitzerklasse, das Offizierskorps und die höhere Zivilbürokratie, die Spitzen der Gesellschaft und die eigentlichen politischen Machthaber.“[123]

Das heißt, »Ursprungsort der Krise« und »Interessenlage der traditionellen Herrschergruppe« waren so miteinander verwoben, daß der Obrigkeitsstaat in der Zusammensetzung der ihn stützenden Gruppen nicht mit den Problemen »fertig werden konnte«, sondern selber Teil des Problems war.

Fußnoten
[76]
ALBERT MÜSSIGGANG: Die soziale Frage ..., a.a.O., S. 60.
[77]
Fußnote im Zitat: „Es sei hier nur erinnert an die Hungerrevolten in den Bergbaugebieten Ungarns und Tirols zur Zeit der FUGGER und an ganz ähnliche Vorgänge in den Spinn- und Weberzentralen Flanderns.“
[78]
ALBERT MÜSSIGGANG: Die soziale Frage ..., a.a.O., S. 59 f.
[79]
WERNER CONZE: Vom »Pöbel« zum »Proletariat«, Sozialgeschichtliche Voraussetzung für den Sozialismus in Deutschland. In: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, 4. Aufl., Köln 1973, S. 111 -136, hier S. 115. Erstveröffentlichung 1954.
[80]
Oberpräsident v. VINCKE in einem Gutachten 1824, zitiert von WILHELM SCHULTE, Volk und Staat, Westfalen im Vormärz und in der Revolution 1848/49, Münster 1954, S. 115.
[81]
Vgl. WERNER CONZE: Vom »Pöbel« ..., a.a.O., S. 116.
[82]
„So lange noch der größere Teil unserer Erdoberfläche so schwach besiedelt ist, wie er es zur Zeit noch ist, so lange nicht nur beinahe ganze Weltteile der Besetzung mit einer ihrer Größe und Fruchtbarkeit angemessenen Bevölkerung harren, sondern auch selbst in unserem, angeblich bereits übervölkerten Europa noch große, der Bebauung fähige, ja zum Teil von der Natur überreich gesegnete Länderstrecken unbewohnt und unbebaut daliegen, wie z.B. die reichen Ebenen Ungarns und der übrigen Donauländer, ferner große Stückevon Polen, Teile von Ost-und Westpreußen usw., so lange kann von einer Übervölkerung im absoluten Sinne, d.h. von einer Übervölkerung der ganzen bewohnbaren Erde noch nicht entfernt die Rede sein.“ KARL BIEDERMANN: Das Proletariat. In: Carl Jantke, Dietrich Hilger, Die Eigentumslosen, Freiburg 1965, S. 435 -450, hier S. 438. Erstveröffentlichung: KARL BIEDERMANN, Vorlesungen über Socialismus und sociale Fragen, Leipzig 1847, S. 26 -66.
[83]
Eine entscheidende Umdeutung der Problemstellung! Denn bereits 1834 hätten nach BÜLAU Boden und Menschenhand mehr produziert können als gebraucht wurde. Die Überzahl der Bevölkerung könne nicht Grund des Übels sein, „weil noch viel daran fehlt, daß alle Hilfsquellen erschöpft, daß nur alle in höchst möglicher Ausdehnung in Anspruch genommen, ja, daß nur alle zugänglich gemacht wären. Folglich läßt sich der bedenkliche Zustand, über den wir alle klagen, nicht als der Zustand der Überbevölkerung, sondern als Nahrungslosigkeit bezeichnen. Das ist nicht ein anderer Name für dieselbe Sache, das macht einen sehr großen Unterschied; von dem Augenblicke an, wo wir den Zustand als einen solchen erkennen, sind wir von der furchtbaren und kaum zu lösenden Aufgabe befreit, auf eine Verminderung der Bevölkerung hinzuwirken oder doch ihre Zunahme möglichst verhindern zu müssen. Vielmehr haben wir es nur mit der Aufsuchung der Verhältnisse zu tun, die die vorhandene, die noch zu geringe Bevölkerung verhindert, alle ihr zu Gebote stehenden Kräfte in voller und erfolgreicher Ausdehnung zu entwickeln. Um einem Übel abzuhelfen, muß man zuvörderst seinen Grund kennenlernen. (...) Alle die Verhältnisse, welche die Geschlossenheit der Güter bewirken, den Boden dem freien Verkehre entrücken, sowie die Grundlasten, die mit bleiernem Gewichte auf ihm ruhen, alles was in das Verhältnis des Menschen zum Grund und Boden andre Rücksichten bringt als die seiner bestmöglichen Benutzung, alles was diese selbst zurückhält, trägt auch dazu bei, daß weder der Landbau so viele Vorteile bringt als er könnte, noch an seinen Vorteilen so viele Anteil nehmen, als darauf Anspruch zu machen berechtigt sind. Der gefesselte Zustand des Landbaues hat einen großen Teil der Bevölkerung den Gewerben zugedrängt, der in dem Landbau, wenn dieser frei von Lasten und Beschränkungen gewesen wäre, einen sichreren Lebensberuf gefunden haben würde. Nicht in den landbautreibenden Dörfern, sondern in den Fabrikorten, den Städten und deren Umgebungen treten die traurigen Erscheinungen der Nahrungslosigkeit am sichtlichsten hervor.“ FRIEDRICH BÜLAU: Überbevölkerung und Nahrungslosigkeit. In: Carl Jantke, Dietrich Hilger, Die Eigentumslosen, Freiburg 1965, S. 256 -265, hier S. 263 f. Erstveröffentlichung: FRIEDRICH BÜLAU, Der Staat und die Industrie, Beiträge zur Gewerbspolitik und Armenpolizei, Leipzig 1834, S. 22 -56. Das Zitat ist eine Vorwegnahme der sozialpolitischen Position OPPENHEIMERs!
[84]
Vgl. ADAM SMITH: Eine Untersuchung über das Wesen und die Ursachen des Reichtums der Nationen, Band 1, Kapitel VIII „Von den Arbeitslöhnen“, Berlin 1963, S. 85 f.
[85]
LEOPOLD VON WIESE: Gesellschaftliche Stände und Klassen. München 1950, S. 29.
[86]
Fußnote im Zitat: „CARL BERTRAM STÜVE: Über die gegenwärtige Lage des Königreichs Hannover. Jena 1832, S. 16 f.“
[87]
WERNER CONZE: Vom »Pöbel« ..., a.a.O., S. 117 f.
[88]
Im Katalog nicht enthaltene Angabe. Entnommen einer Schautafel des Museums.
[89]
HISTORISCHES ZENTRUM WUPPERTAL (Hg.): Katalog des Museum für Frühindustrialisierung, Wuppertal o.J., Blatt 19.1.
[90]
HISTORISCHES ZENTRUM WUPPERTAL (Hg.): Katalog ..., a.a.O., Blatt 1.1.
[91]
HISTORISCHES ZENTRUM WUPPERTAL (Hg.): Katalog ..., a.a.O., Blatt 11.1 und 11.2.
[92]
HISTORISCHES ZENTRUM WUPPERTAL (Hg.): Katalog ..., a.a.O., Blatt 19.5.
[93]
ALPHONS THUN: Die Industrie am Niederrhein und ihre Arbeiter, Bd. I, Die linksrheinische Textilindustrie, Leipzig 1879, S. 174 f. THUN führt zum Beleg seiner Aussagen regierungsamtliche Dokumente an.
[94]
Amtsarzt
[95]
Auszug aus den Protokollen des 5. Rheinischen Provinziallandtags 1837, Staatsarchiv Düsseldorf, Prov. Arch. Nr. 278, S. 486 -501. Abgedruckt in: WOLFGANG KÖLLMANN: Die Industrielle Revolution, Stuttgart 1975, Dokument 35, S. 31 f.
[96]
HEINRICH HERKNER: Die Arbeiterfrage, Bd. 2, Soziale Theorien und Parteien, Berlin 1922, S. 258.
[97]
Querverweis im Zitat: BRUNO HILDEBRAND: Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft, 1848, S. 155.
[98]
Querverweis im Zitat: BRUNO HILDEBRAND: Die Nationalökonomie ..., a.a.O., S. 163 - 283.
[99]
HEINRICH HERKNER: Die Arbeiterfrage, Bd. 2, a.a.O., S. 259 f.
[100]
Vgl. Manifest der Kommunistischen Partei, London, Febr. 1848, (Reprint Karl-Marx-Haus, Trier).
[101]
EDUARD BERNSTEIN: Die Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung, Berlin 1897: Vorwärts, I.Teil, S. 70 -71. Zitiert nach MAX QUARCK: Die erste deutsche Arbeiterbewegung. Leipzig 1924, S. 6.
[102]
MAX QUARCK: Die erste deutsche ..., a.a.O., S. 6 f.
[103]
MAX QUARCK: Die erste deutsche ..., a.a.O., S. 13. QUARCK hat seine Angaben zusammengestellt aus den zwei Bänden von ERNST DRONKE: Berlin. Frankfurt a. M. 1846 und R. C.: Das Berliner Proletariat vor fünfzig Jahren, Vorwärts vom 12. Sept. 1897 (Feuilleton).
[104]
Reich an statistischem Zahlenmaterial ist auch HELMUT SEDATIS: Liberalismus und Handwerk in Südwestdeutschland, Stuttgart 1979. Danach gab es in der württembergischen Industrie 1840 zwei Dampfmaschinen mit zusammen 37 PS und 1850 19 Maschinen mit 237 PS, in der badischen Industrie 1847 24 Maschinen mit 361 PS (S. 159).
[105]
RITA ALDENHOFF: Der Politiker Schulze-Delitzsch. In: Deutscher Genossenschaftsverband (Schulze-Delitzsch) (Hg.): Schulze-Delitzsch, ein Lebenswerk für Generationen. Bonn 1987, S. 11 -57, hier S. 15.
[106]
ERIK BOETTCHER: Hermann Schulze-Delitzsch und der privatwirtschaftliche Förderungsauftrag der deutschen Genossenschaften. In: Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen, Bd. 33, 1983, S. 91 -104, hier S. 92.
[107]
„Bei der fast durchgehends eingetretenen außerordentlichen Preissteigerung verschlingt der Bezug kleinerer Partien vom Zwischenhändler einen so wesentlichen Teil vom Verdienst des Arbeiters, daß derselbe dabei nicht wohl bestehen kann. Ja, durch die hieraus, sowie aus der meist unzulänglichen Ausstattung mit Betriebskapital entstehende Notwendigkeit, bei diesem Bezuge obendrein den Kredit in Anspruch zu nehmen, gerät der Arbeiter dann nur zu leicht in einen Grad von Abhängigkeit von dem Lieferanten, daß »schlechte Ware um teuren Preis« zur Losung solcher Geschäftsverbindungen wird, welche vielfach mit dem Ruin des Kunden endigen.“ HERMANN SCHULZE-DELITZSCH: Die Genossenschaften in einzelnen Gewerbszweigen (1873). In: derselbe, Schriften und Reden, Bd. I, Berlin 1909, S. 748 -818, hier S. 754.
[108]
HERMANN SCHULZE-DELITZSCH: Die arbeitenden Klassen und das Assoziationswesen in Deutschland als Programm zu einem deutschen Kongreß (1858). In: derselbe, Schriften und Reden, Bd. I, Berlin 1909, S. 191 -266, hier S. 199.
[109]
VAHAN TOTOMIANZ: Grundlagen des Genossenschaftswesens, 2. Aufl., Berlin 1929, S. 6.
[110]
HERMANN SCHULZE-DELITZSCH: Die Entwicklung des Genossenschaftswesens inDeutschland (1858). In: derselbe, Schriften und Reden, Bd. I, Berlin 1909, S. 270 -294, hier S. 283.
[111]
Zu den bekannteren Beispielen zählen: die seit 1899 bestehende Produktivgenossenschaft „Glaswerke Warmensteinach“, das 1948 gegründete Gerätewerk Matrei in Tirol und der 1956 gegründete Genossenschaftskomplex von Mondragón, Spanien. Vgl. WOLFGANG BEYWL; BURKHARD FLIEGER: Genossenschaften als moderne Arbeitsorganisation, Studienbrief der Fernuniversität Hagen 1991, S. 14, 101 und 172 ff. Ebenso CLEMENS AUGUST ANDREAE; KARL NIEHEUS: Produktivgenossenschaften als alternative Unternehmensform -dargestellt am Beispiel der Gerätewerk Matrei Gen. m. b. H., Tirol/ Österreich. In: Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen, Bd. 40, 1990, S. 166 -183.
[112]
Vgl. WERNER KRUCK: Die gewerbliche Produktivgenossenschaft in Deutschland. Ein theoriegeschichtlicher Beitrag. In: Zeitschrift für das gesamte Genossenschaftswesen, Bd. 43, Heft 3/1993, 197 -216.
[113]
Man darf hier nicht vergessen, daß die Produktivgenossenschaften im Klassenstaat ihren Status zu verbergen suchten und selbst SCHULZE-DELITZSCH nur von einem Teil der Produktivgenossenschaften Kenntnis hatte. H. HÄNTSCHKE, der zweite Sekretär des Allgemeinen Verbandes der deutschen Erwerbs-und Wirtschaftsgenossenschaften, bemerkt in seinem Vorwort, daß er eine im Jahre 1889 von Professor UGO RABBENO für dessen großes Werk »Le Società cooperative di produzione« eingegangene Anfrage „nur in ganz unvollkommener Weise“ beantworten konnte, „da das damals vorhandene Material über diese Gattung der deutschen Genossenschaften ein sehr spärliches war“. Erst fünf Jahre später gibt HÄNTSCHE quasi die erste, systematisch recherchierte Bestandsaufnahme deutscher Produktivgenossenschaften heraus. H. HÄNTSCHKE: Die gewerblichen Produktivgenossenschaften in Deutschland. Charlottenburg 1894, Vorwort (ohne Seitenzählung).
[114]
„Das eigentlich sozialistische Element des LASSALLEschen Vorschlags (wie die Forderung nach Produktivassoziationen mit Staatskredit allgemein genannt wurde) lag gerade darin, daß er dem Staat direkte Verantwortung für die Lösung der sozialen Frage übertrug.“ SUSANNE MILLER: Das Problem der Freiheit im Sozialismus, Frankfurt a. M. 1964, S. 47. Bei aller Verschiedenheit und Konfrontation zwischen LASSALLE und SCHULZEDELITZSCH, arbeiten beide doch an demselben zeittypischen Problem einer atomistischzergliederten, weder als Öffentlichkeit konstituierten noch politisch konsolidierten »Gesellschaft« und den daraus folgenden Steuerungsdefiziten ihrer Elemente. Wenn SCHULZEDELITZSCH die Politik und LASSALLE den Staat beschwor, so suchten doch beide ein Verfahren oder eine Institution, worüber die Gesamtverantwortlichkeit für Gesellschaft hergestellt werden sollte.
[115]
HERMANN SCHULZE-DELITZSCH: Die soziale Frage (1869). In: derselbe, Schriften und Reden, Bd. 2, Berlin 1910, S. 275 -299, hier S. 279.
[116]
HERMANN SCHULZE-DELITZSCH: Die soziale Frage, a.a.O., ebenda, S. 275.
[117]
CARL AUGUST WEINHOLD: Von der überwiegenden Reproduktion des Menschenkapitals gegen das Betriebskapital und die Arbeit, in den civilisiertesten europäischen Ländern, nebst einigen medicinalpolizeilichen Vorschlägen zur Herstellung des Gleichgewichts zwischen Wohlstand und Armuth. Leipzig 1828, S. IX.
[118]
CARL AUGUST WEINHOLD: Von der überwiegenden Reproduktion ..., a.a.O., S. 24.
[119]
„Man kann meine wissenschaftliche Einstellung (...) derart kennzeichnen, daß ich im Gegensatz zu allen anderen Sozialisten, KARL MARX eingeschlossen, nicht unmittelbar die Interessen des Industrieproletariats, sondern des Landproletariats vertrete. Ich habe ernst gemacht mit dem MARXschen Satz, daß es nötig ist, die tiefste Klasse der Bevölkerung zu heben, um die ganze Gesellschaft zu heben. (...) der Landarbeiter bildet die tiefste Schicht der Bevölkerung.“ FRANZ OPPENHEIMER: Lebenserinnerungen, S. 93.
[120]
„Die Einwohnerzahl auf dem Gebiete des späteren Bismarckreiches betrug 1816 rund 24,8 Millionen. Nach den Angaben DIETERICIS lebte in Preußen um 1800 noch über die Hälfte der städtischen Bevölkerung als Ackerbürger, so daß mehr als 80 % aller Einwohner der Monarchie mit Landbau beschäftigt gewesen sein werden.“ CARL JANTKE: Der vierte Stand. Freiburg 1955, S. 138.
[121]
RUDOLF STADELMANN: Soziale Ursachen der Revolution von 1848. In: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, 4. Aufl., Köln 1973, S. 137 -155, hier S. 138.
[122]
RUDOLF STADELMANN: Soziale Ursachen ..., a.a.O., S. 155.
[123]
HANS ROSENBERG: Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse. In: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, 4. Aufl., Köln 1973, S. 287 308, hier S. 287.